Deine Eltern stammen aus der Türkei und sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Was kannst du darüber erzählen?
Meine Eltern kommen aus einem Dorf in Zentralanatolien. Man kann das schlecht mit den Dörfern hier vergleichen. Manchmal blitzt da Moderne raus – wie Antennenmasten und Stromleitungen – aber ansonsten gibt es dort vor allem Hühner, Lämmer und Kühe. Wenn ich eine Stadt nennen müsste, die man kennt, wäre das Eskişehir. In die Stadt fahren wir für bürokratische Erledigungen und größere Einkäufe. Mein Opa mütterlicherseits kam als Gastarbeiter nach Alzenau, um bei der Firma „Wellpappe“ zu arbeiten. Er kam alleine, hat hier viele Jahre gearbeitet und konnte dann erst seine Familie nachholen. Später ist auch meine Mutter mitgekommen und hat hier die Hauptschule besucht. Meine Eltern haben in der Türkei geheiratet. Nachdem mein Vater seinen Wehrdienst in der Türkei geleistet hatte, war er auch berechtigt, nach Deutschland zu kommen, und die Familie konnte vereint werden. Von der väterlichen Seite meiner Familie ist sonst niemand nach Deutschland gekommen. Meine Großeltern sind in der Türkei geblieben und waren immer unsere erste Anlaufstelle, wenn wir in die Türkei gefahren sind. 1989 bin ich auf die Welt gekommen, und seitdem lebt der Kern der Familie immer noch in Alzenau.
Was löst der Begriff Heimat bei dir aus?
Das ist ein sehr emotionaler Begriff. Das Besondere an der türkischen Sprache ist, dass es eine emotionale Sprache ist. Es gibt eine gefühlsechte Übersetzung des Wortes „Heimat“ im Türkischen, und diese lautet „Vatan“. Wenn mich jemand fragt: „Was ist deine Heimat?“, würde ich „Frankfurt“ antworten. Wenn ich meine „Vatan“ nennen würde, wären das die Ortschaften meiner Familie in der Türkei. Das ist eine Ambivalenz, die sich in all den Jahren entwickelt hat. So etwas ist immer mit einem Konflikt verbunden, aber es ist etwas, das ich heute akzeptiere, womit ich lebe und worüber ich auch sehr glücklich bin. Es ist eine Bereicherung für mein Leben, dass ich zwei Orte habe, die ich „Heimat“ bzw. „Vatan“ nennen kann. Heimat – ohne Wenn und Aber – ist Frankfurt, ist Deutschland. Ich fühle mich an keinem anderen Ort so wohl wie in Deutschland. Aber wenn ich in meine „Vatan“ fahre, schlägt mein Herz höher: wenn ich die Menschen dort sehe, die Sprache und die Musik höre, die Orte sehe, wo meine Vorfahren gewirkt haben. Dieses Gefühl kann und möchte ich nicht unterdrücken. Es setzt mein Wesen in Schwingungen.
Welche Rolle spielen beide Sprachen für dich?
Ich merke, dass meine Türkischkenntnisse bei weitem nicht so stark sind, wie sie früher einmal waren. Jede Fähigkeit, die nicht genutzt wird, jeder Muskel, der nicht beansprucht wird, baut sich ab. So ist das auch mit meiner eigentlichen Muttersprache, dem Türkischen. Sie spielt aber weiterhin eine große Rolle, wenn ich mit meinen Angehörigen kommuniziere oder bestimmte Gefühle ansprechen möchte – wie ich es nur in der türkischen Sprache kann – zum Beispiel in Form von Musik. Auf der anderen Seite steht das Deutsche. Ich bin sehr viel besser in Deutsch als in Türkisch. Leider kann ich viele meiner Gefühle nur noch auf Deutsch richtig zu Wort bringen. Das bringt gewisse Hürden mit sich. Es wird zunehmend schwieriger, mit meinen Eltern über emotionale oder auch fachliche Themen auf Türkisch zu reden, und ich greife immer häufiger auf deutsche Begriffe zurück. Mein aktives Türkisch geht teilweise verloren, aber ich kann alles verstehen, was meine Eltern mir sagen.